Vom kollektiven Maskennähen zu Frust und Fatalismus: Die zweite Corona-Welle hat Tschechien brutal erwischt

Sorglosigkeit, Fake-News und fehlende Kommunikation der Regierung lähmen den Kampf gegen das Coronavirus. Mitten in der zweiten Welle ist die Bevölkerung verunsichert und ringt um ihren Zusammenhalt.

Thomas Bochet, Jitka Zambochova, Prag
Drucken
Das Prager Schloss zur Polizeistunde.

Das Prager Schloss zur Polizeistunde.

Martin Divisek / EPA

Von fern betrachtet, scheint sich in Prag das Bild zu wiederholen: Die zweite Corona-Welle fegt die malerischen Gassen erneut leer, Restaurants und Souvenirshops sind wieder geschlossen. Im Frühling wirkte der erste Lockdown wie eine Schocktherapie, die im ganzen Land eine ungeahnte Solidarität hervorrief. Mit Improvisationstalent, tschechischem Humor und ziviler Beherztheit half sich die Gesellschaft selbst über die erste Krise hinweg. Unvergessen, wie eine ganze Nation sich selbst Masken nähte und sogar die Spitäler damit versorgte. Nun, im Herbst, scheinen nur noch Frust, Unsicherheit und Fatalismus übrig zu sein.

«Wie auf einer verlassenen Insel» fühlt sich Malgorzata Ebel, Besitzerin eines kleinen Kaffeeshops mitten in der Prager Altstadt, «das Stadtzentrum ist ausgestorben, die Touristen sind weg», sagt sie. Angesichts der absehbaren Krise hat Ebel bereits im Frühling zwei weitere Filialen in der Altstadt geschlossen. Nur den kleinen Stammladen, den sie seit 25 Jahren an derselben Lage betreibt, will sie um jeden Preis halten. Auf staatliche Hilfe hofft sie kaum, diese hätte ohnehin eher symbolischen Charakter, meint Ebel gefasst.

Der Kampf um das verlorene Vertrauen

Małgorzata Ebel, Besitzerin des Cafe Ebel in ihrem Stammladen in Prag

Małgorzata Ebel, Besitzerin des Cafe Ebel in ihrem Stammladen in Prag

Thomas Bochet

Die zweite Corona-Welle hat Tschechien brutal erwischt. Das Land hatte bis vor kurzem weltweit eine der höchsten gemessenen Infektionsraten pro Kopf. Mitte Oktober hatte die Regierung nach langem Zögern erneut einen Teil-Lockdown beschlossen. Alle Schulen und Kulturinstitutionen sind geschlossen, Gastrobetrieb ist nur noch als Take-away möglich. «Wir sind schon alle daran gewohnt, dass wir nicht wissen, was sein wird», kommentiert Ebel die staatlichen Massnahmen und hebt dabei nur die Augenbrauen. Für die meisten Tschechen ist die staatliche Kommunikation sehr intransparent. Regeln würden ohne Vorlauf erlassen und wieder geändert, die Situation sei verrückt. «Im Frühling, da war ich wirklich wütend», sagt sie. Doch jetzt nimmt sie alles, wie es halt kommt, und sagt sich: «Ich gebe nicht auf!»

Prags Bürgermeister Zdenek Hrib stellt einen zunehmenden Verlust an Vertrauen in die Regierung fest. Dabei kritisiert er die mangelhafte Kommunikation der Staatsführung sowie die «Tatsache, dass sich die Regierung selbst nicht gemäss den erlassenen Regeln verhält und nicht mit gutem Beispiel vorangeht». Damit spricht Hrib direkt das Verhalten des Ende Oktober zurückgetretenen Gesundheitsministers Roman Prymula an. Diesem wurde ein Treffen in einem Restaurant zum Verhängnis, wenige Tage nachdem er selbst die allgemeine Schliessung der Gastrobetriebe bekanntgegeben hatte.

Gemäss Hrib konzentrieren sich die städtischen Bemühungen auf die dringlichsten Massnahmen der Coronavirus-Bekämpfung, insbesondere auf Informationskampagnen und die Errichtung von Testzentren. Zentral ist für den Bürgermeister, das Vertrauen der Bevölkerung in diesem Kampf zurückzugewinnen und mit eigenem Beispiel voranzugehen: «Aus meiner Position als Bürgermeister rufe ich die Öffentlichkeit zu mehr Zusammenhalt auf und erinnere daran, dass die Menschen die Massnahmen für sich selber, nicht für die Regierung befolgen sollten.» Hribs Hoffnung ist, dass die Gesellschaft diese Krise kooperativ meistert, ungeachtet aller politischen Differenzen. Wie ernst es ihm ist, beweist er durch sein persönliches Engagement. Jeden Nachmittag fährt der ausgebildete Arzt mit dem Tram in ein Prager Spital, um das überlastete Personal zu unterstützen.

In einer Notfallstation des Thomayer-Spitals in Prag.

In einer Notfallstation des Thomayer-Spitals in Prag.

Martin Divisek / EPA

Spitalpersonal am Limit

In Tschechiens Spitälern spitzt sich die Situation dramatisch zu. Die seit September exponentiell wachsenden Corona-Infektionsfälle lassen zeitversetzt die Anzahl der Hospitalisationen und der Todesfälle anschwellen. Die Spitäler agieren am Limit. Die Kapazitäten sind ausgeschöpft, es fehlt an Betten, ganze Stationen werden umdisponiert und Wahleingriffe verschoben. Vor allem aber fehlt es an allen Ecken und Enden an personellen Ressourcen.

Zdeněk Hřib, Bürgermeister von Prag, bei einem Hilfseinsatz im Kampf gegen das Coronavirus

Zdeněk Hřib, Bürgermeister von Prag, bei einem Hilfseinsatz im Kampf gegen das Coronavirus

Prokop Laichter, MHMP

Tschechiens Mangel an medizinischem Personal ist ein strukturelles Problem im sonst robusten Gesundheitssystem. Während der ersten Corona-Welle im März kam die ehemalige Krankenpflegerin Renata Dubcova daher auf die Idee, die Initiative «Sestry v zaloze» (Schwestern in Reserve) zu gründen. Dies, um ein Reservoir von ehemaligen Pflegefachkräften zu schaffen, auf das im Notfall zugegriffen werden kann. Laut Dubcova war im Frühling der Wille zu helfen enorm, die Initiative stand sinnbildlich für die beherzte zivile Selbsthilfe in der Gesellschaft Tschechiens, welche in den Augen mancher die Unfähigkeit der Führung wettmachte.

Doch Dubcova registriert nun einen schnellen Stimmungswandel in der Gesellschaft, den sie an der sinkenden Wertschätzung gegenüber dem unermüdlichen Einsatz des Pflegepersonals festmacht. «Im Frühling waren die Leute dankbar für unsere Arbeit, sie brachten uns Essen und klatschten jeden Nachmittag, um uns zu unterstützen. Jetzt, wo das Personal es mehr denn je brauchen könnte, dankt niemand mehr, die Leute haben ihre Demut verloren», stellt sie fest.

Hart getroffen vom Lockdown. Ein geschlossenes Souvenirgeschäft in Prag.

Hart getroffen vom Lockdown. Ein geschlossenes Souvenirgeschäft in Prag.

David W. Cerny / Reuters

Mangel an Kommunikation führt zu Desinformation

Tschechien lockerte als eines der ersten europäischen Länder die Massnahmen nach der mild verlaufenen ersten Epidemiewelle, und schon bald konnte eine wachsende Sorglosigkeit im Umgang mit dem Virus beobachtet werden. Erste Warnungen im Spätsommer seitens anerkannter Experten riefen feindselige Reaktionen hervor. Bald kursierten in den Internetforen oft nachweislich falsche Informationen über das Coronavirus. Die Regierung unter Ministerpräsident Andrej Babis liess diese Entwicklung lange gewähren und vermied es bis zu den Regional- und Senatswahlen Anfang Oktober, sich klar zu äussern.

«Seit dem Sommer gibt es eine Kakofonie von Experten ohne spezifisches Fachwissen, was zu einer enormen Verunsicherung in der Gesellschaft geführt hat», stellt Petr Ludwig fest. Der Datenanalytiker und gut vernetzte Blogger engagiert sich als Mitbegründer von Online-Initiativen im Kampf gegen das Coronavirus, so mit der Kampagne «Mask4all» (Masken für alle) und «Zachranme Cesko» (Retten wir Tschechien). Dabei bringt er namhafte Spezialisten zusammen und macht ihre Erkenntnisse und Botschaften über seine Influencer-Netzwerke einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.

Ein Covid-Leugner in Prag demonstriert mit der Imitation einer mittelalterlichen Pestmaske gegen die Seuchenbekämpfung.

Ein Covid-Leugner in Prag demonstriert mit der Imitation einer mittelalterlichen Pestmaske gegen die Seuchenbekämpfung.

Petr David Josek / AP

Fake-News als Gefahr, Corona-Krise als Weckruf

Durch den Mangel an zeitgemässer und vertrauenswürdiger Kommunikation seitens der Regierung ist laut Ludwig gerade in Tschechien viel Raum für die Verbreitung von Fake-News entstanden. Diese würden gemäss Ludwig gezielt für Desinformation genutzt: «Analysen zeigen, dass wöchentlich über tausend Artikel mit Fake-News über Covid auf den Desinformationsportalen geteilt wurden. Das ist kein Zufall, sondern ein Akt hybrider Kriegsführung.» Wer genau dahinterstehe, sei unsicher, die Portale seien meist auf russische oder chinesische Urheber zurückzuführen.

Ludwig sieht diese Entwicklung mit Sorge: «Fake-News sind nicht nur eine momentane Gefahr im Kampf gegen Covid, sondern eine Bedrohung für die Zukunft demokratischer Gesellschaften.» Er hofft, dass ziviles Engagement gegen Fake-News die Regierung dazu bewege, diese Gefahr ernst zu nehmen. Die Corona-Krise sei hoffentlich ein Weckruf für die Zukunft. Anfangs dieser Woche haben die Behörden nun endlich mit einer neuen, umfassenden Info-Website zum Coronavirus reagiert. Auch Dubcova sieht in der jetzigen Krisenerfahrung viele Möglichkeiten für einen gesellschaftlichen Wandel: «Nichts wird mehr sein wie zuvor», ist sie überzeugt. Covid habe das Potenzial, gesellschaftliche Prioritäten und Werte fundamental zu ändern.